Eröffnungsrede von Edith Seifert
»Couch und Sessel finden wir in Erzählungen und metapsychologisch- topologischen Übungen eher wieder als in Falldarstellungen«.

I.
Bei J. Lacan heißt es an einer Stelle, die Psychoanalyse sei eine Verschachtelung von »récit« und »rencontre«, Erzählung und Begegnung. Ich weiß nicht, wo diese Sentenz zu finden ist und ich zitiere sie Ihnen hier auch aus zweiter Hand1, aber sie umreißt treffend den Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Dichtung. Bevor ich aber den Überlegungen Lacans zu Erzählen und Begegnen nachgehe, will ich nachsehen, was Freud dazu zu sagen hat. Wenn es bei Freud nicht um die Untersuchung von Art und Beschaffenheit der Traumbilder, also um Bildliches und um Darstellung geht, das seine Rücksichtnahmen fordert, ist auch für Freud alles Erzählung. Das erklärt sich aus seiner Kehrtwende vom Blick zum Ohr, vom Sehen zu Sprechen und Hören. Eine der entscheidenden Wendungen Freuds bestand ja darin, daß er anders als seine Vorgänger, namentlich J.-M. Charcot die Alleinherrschaft des Visuellen als Gewaltausübung erkannte und das Sprechen und Hören in den Vordergrund rückte; das Ohr, das sich dem, was erzählt wird, öffnet. Woraus sich für die Kur die bekannte Konsequenz ergab, daß wie es heißt, »in der psychoanalytischen Behandlung nichts anderes vorgeht, als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken, bekennt seine Wünsche und Gefühlsregungen«.2 Der Psychoanalytiker hört den Erzählungen seiner Patienten zu, und so wie Freud, erzählt er auch selber. Er fragt nach, unterstreicht, vergleicht, erzählt um, erzählt nach, hoffentlich nicht daran vorbei, erzählt mit seinen Deutungen und Skandierungen, aber auch mit seinem Räuspern und Husten, seinem Glucksen und Prusten und mit seinem Schweigen, das ja sehr beredt sein kann. Und schließlich hört er gar nicht mehr auf zu erzählen, erzählt er sogar gewaltig viel, auch wenn er das nicht unbedingt so zu erkennen gibt, schließlich erzählt er die Ödipusgeschichte, diese »Supererzählung«, die er, wenn er Freud heißt, auf seine ganz eigene Art nacherzählt3, die er erzählt als die Schicksalsgeschichte des Knaben Ödipus, der seine Mutter liebt und den Haß und die Rivalität seines Vaters fürchtet.
Er erzählt die Geschichte von »Totem und Tabu«, die er überhaupt erst mit Hilfe der (Ödipus-) Geschichte erzählt. Er erzählt also die menschheitsgeschichtliche Schicksalsgeschichte von der Brüderhorde, der der Urvater die Frauen vorenthält, weshalb ihn die Horde erschlägt, die ihre Tat später bereut und die ihre Schuldgefühle in die ersten zivilisationsstiftenden Gesetze, Tötungsverbot und Inzesttabu, umsetzt. Und er erzählt seine eigene Geschichte, die auch die Geschichte unserer Einsamkeit sein kann, die von »Moses«, der ein Fremder des eigenen Volkes war.
J. Lacan, der Psychoanalytiker, der so spektakulär und nachhaltig zu Freud zurückgekehrt ist, war viel weniger erzählfreudig als Freud. Lacan ist wortkarg, ist kein Fabulierer. Zwar sind wir erst durch ihn auf die Gesetze des Unbewußten richtig aufmerksam geworden, die Lacan als allgemeine Gesetze der Rhetorik, als Metapher und Metonymie bezeichnet hat, ansonsten ist Lacan aber schweigsamer als Freud. Von ihm kennt man eher diese Skandalgeschichten, wie er statt den Faden der Erzählung weiterzuspinnen oder weiterspinnen zu lassen, seine Analysanten wortlos verabschiedet und den Erzählfaden eher zu seinen Knoten verknüpft und dabei in tiefes Schweigen verfällt. (Als Höhe- und Endpunkt seiner psychoanalytischen Umformulierungen stellte er eine mathematische Knotentheorie auf und versenkte sich tatsächlich in die wortlosen Fadenringe, Ketten, Cross-caps, Borromäischen Knoten, Kleinschen Flaschen u.a. topologische Figuren mehr). Lacan tat das vorzugsweise an den Stellen, wo es nicht mehr geht, wo das schwarze Loch der Kastration und der Frau auftaucht, Freud seinerseits den Faden weiterspinnt.
Aber mit Sicherheit hat sich auch Lacan geräuspert, geschneuzt und geschnieft und sonstwie geäußert, strenggenommen also immer noch erzählt, die Geschichte seines Schnupfens, seines Hustens und nicht zu vergessen, die Geschichten vieler Begegnungen, und schließlich hat er ja nacherzählt, den »Hamlet« (Seminar über Hamlet) und in der Hauptsache natürlich Freud. Jemand hat einmal gesagt, man täte besser daran, die Freudschen Fälle als Sündenfälle der Psychoanaylse zu bezeichnen. Ich muß sagen, mir gefällt diese Bezeichnung des Sündenfalls statt der Falldarstellung gut. Denn die Analytiker und Analysanten sprechen ja fast von nichts anderem als von den großen Sünden, von Todsünden, sexuellen Attentaten, Verführung, Mißbrauch. Alle Patienten Freuds erzählen davon, von ihren eigenen Sünden oder denen der anderen, der kleine Hans, Dora, der Wolfsmann, der Rattenmann und alle frühen Hysterikerinnen auch, Frl. Emmy von N., Elisabeth von R., Katharina und wie sie alle heißen. Und ihre Sünden sind uns ja wirklich erhalten geblieben. Am besten sollte man deshalb gleich Freudsche Fälle als Sündenfälle bezeichnen.
Aber, was der Wortschöpfer der Sündenfälle mit seiner Bezeichnung vortragen wollte, war wohl weniger die Erkenntnis, daß wir alle im Herzen die ärgsten Sünder sind, als die Wahrnehmung, daß sich Freud bei der Darstellung seiner Fälle irgendwie selbst versündigt. Freud nimmt keine neutrale psychoanalytische Erzählhaltung ein, er mischt sich ein, dirigiert, suggeriert, focussiert, versündigt sich an der sakrosankten Regel der nicht auktorialen, psychoanalytischen Enthaltsamkeit. Nicht daß ihm deshalb wie bei Ferenczi die Patientinnen auf dem Schoß gesessen hätten, doch die innere Beteiligung ist in seinen Falldarstellungen so unübersehbar und ist von Lacan mehrfach so deutlich unterstrichen worden, daß man sich fragen kann, was denn, wenn Freud solchen Fehlern erlegen ist (,wie z.B. Dora auf eine heterosexuelle Beziehung zu Herrn K. zu dressieren), noch Lohnenswertes von ihm weiterzugeben bleibt?
Ich denke, daß es an den Freudschen Falldarstellungen, sagen wir ruhig Sündenfällen, trotzdem viel abzulesen gibt. Freuds Falldarstellungen sind nämlich Erzählungen, schriftliche Erzählungen, Nacherzählungen und Niederschriften von anfangs sogar aus den unterschiedlichsten Quellen Zusammengeflossenem, Gehörtem. Und allein schon aus diesem Grunde stellen sie eine Sünde dar, sie versündigen sich an dem großen Gebot der Authentizität der Erzählung.
Skandalträchtig ist das im Fall vom »Kleinen Hans«. Freud nimmt hier fremde Beobachtungen, Mitteilungen und Notizen des Vaters in seinen Bericht auf und verfährt auch im »Rattenmann« mit einem Bericht der Schwester des Patienten nicht anders. Von der Freudforschung wird das in der Regel als lässige Sünde auf dem Weg zur Ausarbeitung der reinen Psychoanalysetechnik gewertet, verdient aber, eine offensivere Beurteilung, denn es ist wesentlich für die Darstellung!
Im »Fall Schreber« setzt sich diese Sünde plakativ und exemplarisch fort. Der Schreberfall ist eine Erzählung über eine Erzählung, die vom Patienten selbst verfaßt worden ist. Freud rollt den Fall auf, als hätte Schreber persönlich auf seiner Couch gelegen und als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem, was er in der Kur zu hören bekommt und dem, was er liest. Vielmehr läßt er» (…) bei dieser Affektion (den) schriftliche(n) Bericht oder die gedruckte Krankengeschichte als Ersatz für die persönliche Bekanntschaft mit dem Kranken eintreten«.4
Fazit: Freudsche Fälle sind Erzählungen, in denen sich die unterschiedlichsten Texte überlagert und gleichwertig behandelt vorfinden. Mündliche Mitteilungen der Angehörigen (zeitweise), Schriftstücke der Patienten und Konstruktionen, Texte des Psychoanalytikers Freud. Der Psychoanalytiker Freud ist es zudem, der seine Erzählungen arrangiert, strategisch und rhetorisch komponiert und stilisiert hat. Was an Falldarstellungen dabei herausgekommen ist, sind künstlich-künstlerische Erzählungen wie bei einem Dichter, sind Erzählungen von Personen mit Spitznamen, der »Rattenmann«, der »Wolfsmann«, sind eine Dora, ein Senatspräsident, den wir, obwohl der Bericht mehrfach gebrochen ist, so lebhaft vor Augen haben, daß wir ihn als Person zu kennen vermeinen und uns in keinem der Fälle nur der Schatten einer Ahnung der authentischen Personen und wirklichen Umstände streift. Wäre das Inkognito der Personen nicht mittlerweile gelüftet, wären uns weder Hans Halberstedt, der »Rattenmann« noch Ida Bauer, Freuds Dora noch Bertha Pappenheim, Breuers Anna O. bekannt. Als Subjekte der Falldarstellungen sind sie allesamt vom Autor des Textes, von Freud konstruiert und erfunden worden. Dieser Umgang mit der Wirklichkeit hat seine Folgen, und Freud wundert sich in den Anfängen seiner Arbeit nicht wenig darüber: »Und es berührt mich selbst (noch) eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaflichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe: Lokaldiagnose und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge wie vom Dichter mir gestattet, Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen«.5 Epistemologisch wird man aus solcher Einsicht dann später die »narrativen Strukturen« der Psychoanalyse ableiten (Roy Schafer) oder ihr »psychodramatisches Substrat«, um den Status der Psychoanalyse metapsychologisch zu charakterisieren (Peter von Matt).
Eine eingehende Darstellung wie vom Dichter. Danach sehen die Fallgeschichten aus der Feder Freuds auch wirklich aus. Denn Freud hält dicht wie die Dichter, hüllt die Identität seiner Personen in Dunkel und statuiert mit seinen Geschichten kein Exempel für irgendein Allgemeines. Doras Abwehr gegen Herrn K., die in den Augen von Lacan, wie gesagt, von Freud völlig fehlinterpretiert wird, nimmt Freud nicht als prototypische Abwehrreaktion einer Hysterikerin. Doch selbst wo diese Neigung sich Bahn bricht, – denn es gibt tatsächlich auch einen Universalisierungsansatz: »Wenn ich auf das Intimste meiner Patientinnen komme, ist das erstaunlicherweise verallgemeinerbar«6, macht Freud aus seinen Patienten dennoch kein Ding der ärztlichen Erkenntnis, und aus dieser einmalig, einzigen Erzählung, die ihm in der Kur anvertraut worden ist, kein Erkenntnisobjekt wie jedes andere, nie einen Fall. Das Besondere an Dora, am Rattenmann, und dem kleinen Hans wird von keinem Allgemeinen geschluckt. Freuds Fälle stehen unter keinem objektiven Gesetze der Neurose und aus ihnen wird auch kein allgemeines Gesetz herausgesetzt. Die umgekehrte Bewegung findet statt, jeder einzelne seiner Fälle ist für Freud gut genug, die bis dahin gefundenen Gesetzmäßigkeiten umzustoßen. Die Allgemeingültigkeiten der Psychoanalyse sind in permanenter Umarbeitung und Durcharbeitung, und die Fälle sind die glücklichen Gelegenheiten, dieses Durcharbeiten in Gang zu halten, nicht aber es zu vollenden.

II.
Sehen wir uns unter diesem Blickwinkel eine kleine Falldarstellung einmal näher an. Den Fall Katharina aus den frühen Studien zur Hysterie von 1895. Inhaltlich begegnen wir hier wieder einem wahren Sündenfall, denn Thema ist sexuelle Verführung, sexueller Mißbrauch. Einen Fingerzeig darauf erhalten wir gleich im Titel der Geschichte: Katharina, mitzulesen wie bei Frau Emmy v. N., Frl. Elisabeth v. R., nicht aber bei Miss Lucy die 3 Pünktchen hinter dem Namen, Katharina…, Pünktchen, die auf Schlimmes, anscheinend eine unaussprechliche Schlimmheit schließen lassen, und die vielleicht das Hauptthema der Darstellung ist. Doch davon erfährt man zunächst wenig Bestimmtes. Dies obwohl sich Freud bei Katharina noch weniger Zurückhaltung auferlegt als in den anderen sog. voranalytischen Fällen. Das mag an der ungewöhnlichen Topologie dieser »Kur« liegen. In den Hohen Tauern, auf 2000m Höhe. Freud genießt das spürbar. Scheint es ihm doch nahe zu legen, daß es unten wie oben einerlei ist. Der Neurose ist alles gleich lieb. In dieser ungewöhnlichen Topologie führt Freud der Zufall mit diesem »großen, kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene« zusammen. Und nach einer förmlichen Vorstellung: »Ist der Herr ein Doktor?« – »Ich bin nervenkrank!« beginnt eine Blitztherapie. Aufgrund der ungewöhnlichen Topologie wandelt man die bisherige Technik ab, von 2000m Höhe an keine Hypnose mehr, nur noch Unterredung! Die Erzählung davon ergibt nun Folgendes: Das große Mädchen mit der mürrischen Miene wird von vielen Leiden gequält: Druck auf die Augen, Schwindel und Würgen im Hals, Atemnot. Freud diagnostiziert sofort einen Angstanfall mit hysterischer Aura. Und erzielt schließlich einen so glänzenden Heilerfolg, daß ihm die »KV« den Punktwert gleich verdoppelt hätte, wenn sie davon erfahren hätte. Am Ende der 1-2 stündigen Sitzungen ist das große Mädchen jedenfalls »wie verwandelt, das mürrische, leidende Gesicht hat sich belebt, die Augen sehen frisch drein, sie ist erleichtert und gehoben«.7 Erneute Veränderung der Topologie!
Freud erzählt auch, wie er das zustande gebracht hat. Auf eine Art und Weise und mit einer Technik, die einen erschaudern läßt. Ohne viel Skrupel hinsichtlich psychoanalytischer Askeseideale, im Gegenteil. Freud lenkt die Patientin mit Fragen, induziert ihre Antworten, insistiert, gibt die Antwort an ihrer Stelle, führt sie in die Enge, ist suggestiv, nagelt sie fest und ist so richtig penetrant. Ein Psychoanalytiker zum Abwinken. (Woran man aber sieht, daß Einmischung immer noch besser ist als sich hinter der »neutralen Durchsichtigkeit psychologischer Begriffe« zu verschanzen.)
Ganz offensichtlich ist Freud fasziniert von Katharina. Ein bißchen sicherlich deshalb, weil Katharina ihm die passende Geschichte zu den »Vorläufigen Mitteilungen« liefert, die er soeben (1893) zusammen mit Breuer veröffentlicht hat. Ein bißchen sicher auch aus Entdeckerfreude darüber, hier nun endlich auf die wesentlichen Bedingungen der Neurose gestoßen zu sein: Trauma, vorzeitiges sexuelles Erlebnis, verzögerte hysterische Reaktion und Gespräch mit kathartischer Wirkung. Und doch scheint Freud mehr als von den theoretischen Bestätigungen und Ergänzungen, die ihm Katharina liefert, vor allem von Katharina selbst fasziniert zu sein. Jedenfalls läßt er nicht locker und verdeckt das in seiner Erzählung auch nicht. Da erzählt er nicht drumherum: »Sagen Sie mir einmal genau, Sie sind ja jetzt ein erwachsenes Mädchen und wissen allerlei.« »Sagen Sie mir genau, was haben Sie denn in der Nacht eigentlich von seinem Körper verspürt?«8 Die alte quälende Frage also, die ihn gefangen hält: Was will das Weib? Freud gibt damit wie immer einen Durchblick in Richtung des rätselhaften Begehrens, Begehrens des Psychoanalytikers. Freud sagt nicht: So und so ist die wahre Geschichte von Katharina: Der Vater hatte ein Verhältnis mit der Cousine, das von Katharina und ihrem Bruder entdeckt wurde, so daß den Kindern »vorzeitig die Augen geöffnet« wurden und Katharina einen Druck auf die Augen bekam oder: Weil sie das nicht verdauen konnte, in ihrem Alter und unfertigen psychischen Zustand, bekam sie dies Würgen im Hals, oder weil sie das Lügengespinst, in das die Familie durch diese unselige Geschichte verwickelt wurde, nicht aushalten konnte, ihre Schwindelanfälle. So stellt Freud die Geschichte ja nicht dar. Und er sagt auch nicht: S1 – a durch S, soll heißen, daß sie ihre schein-organisch- hysterischen Symptome am Platz des Diskursagenten produziert, um den Befehlen des Herren Signifikanten zu gehorchen.9 Solcherart Erklärungen und Ursache – Wirkungsverbindungen zieht Freud ja nicht in Erwägung und schließt die Erzählung – wie unbefriedigend, sogar ohne eine bestimmte Antwort, gleichzeitig aber mit der Erklärung ab, daß das Rätsel jetzt gelöst und man auf dem Grund der Dinge gekommen sei, über den sich nicht mehr viel sagen lasse. Darüber hinaus denkt er sich seinen Teil, liest dazu wohl auch in der Miene von Katharina die Bestätigung für seine Vermutung, denn sie sagt ja nichts. Sie sagt nichts, er sagt nichts. Doch er denkt. Freud denkt, daß sie zu sagen scheint, daß sie denke, daß er wohl das Richtige denke.
Doch damit nicht genug, auch inhaltlich geht es in der »Katharina«- Erzählung mit äußerster Diskretion zu. Keine Idee davon, daß Freud die Flucht in das entfremdend Allgemeine antreten würde. Freud hält einfach dicht wie die Dichter. Und das ist im Fall »Katharina« im Grunde erstaunlich.
Denn theoretisch geht er ja 1893 noch von der Faktizität der Verführung aus und widerruft diese erst ein Jahr später, nachdem er entdeckt hat, daß zwischen Wahrheit und Fiktion keine Unterscheidung zu machen ist. Aber selbst, wo er noch voll auf der positivistischen Faktenlinie liegt, präsentiert er in seiner Erzählung ein rechtes Verwirrspiel über der Frage, wer denn hier mit wem die traumatisierend sexuelle Szene gespielt hat. Die Geschichte von 1893 sagt, der Onkel mit Franziska, der Cousine, deutet aber schon an, daß es zwischen dem Onkel und Katharina ebenfalls sexuelle Vorfälle gegeben hat. 31 Jahre später ist die Rücksicht auf die Darstellbarkeit aufgehoben und soll nun ein Zusatz über die wahren Verhältnisse aufklären. Doch dieser verdunkelt eher als er erhellt. Denn jetzt heißt es, daß Katharina nicht die Nichte, sondern die Tochter der Wirtin war und diejenige, die den sexuellen Versuchungen des Onkels, der sich nun als der eigene Vater entpuppt, erlag. Frage nur, wer dann die Cousine ist. Ist die Cousine Franziska nun tatsächlich die Cousine oder ist sie nur das alter Ego von Katharina und sind die zwei weiblichen Personen Katharina und Franziska vielleicht sogar ein und dieselbe?
Zwei »Psyche«-Autoren versuchen hier Klarheit zu schaffen. Sie haben genug von dem Versteckspiel und Pünktchen. Katharina Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, im Jahre 189 Pünktchen, auf dem Pünktchenkogel. Sie wollen es wissen, Namen, Fakten, Daten. Sie bieten uns damit ein Beispiel für die andere Art von Fallgeschichten und psychoanalytischen Erzählungen. 10 Freuds Katharina wird identifiziert als Aurelie K.. 1893 kam Freud gar nicht so zufällig mit K. zusammen, denn er kannte die Familie. Den Sohn der Familie hatte er kurz nach dem 1. Weltkrieg nach Döbling in die Irrenanstalt überwiesen und auch die andere Tochter, Gisella hatte er kurz einmal behandelt. Sommer 1893, in dem die Erzählung spielt, besucht Freud, wie die »Psyche«-Autoren in den Gästebüchern des Alpenvereins nachlesen, den Jakobskogel der Raxalm, wo Katharina mit ihrer Mutter Getrud K., ihrem Vater Julius K. und der Cousine Barbara G., einer Nichte der Mutter, die zur Hilfe eingestellt worden war, das Erzherzog-Otto-Haus bewirtschaftet. Und tatsächlich war es nicht der Onkel, sondern der Vater, wie Freud dann später enthüllt, der das sexuelle Attentat verübte, doch das nun wiederum nicht an der eigenen Tochter, sondern an der Nichte der Frau, Cousine von K.. Die »Psyche«-Autoren kommen zu diesem Schluß, weil ihre Recherchen in den Gerichtsarchiven der Umgebung keine Strafakte Julius K. ans Licht bringen. Das muß nun nicht unbedingt beweisen, daß zwischen Vater und Tochter kein strafbares, inzestuöses Verhältnis bestand und daß der Onkel der Verführer war, bzw. daß die erste und nicht die zweite Geschichte, die eigentliche und authentische ist. Aber sei’s drum. Zu dem Ganzen läßt sich im Grunde überhaupt nur sagen, daß wir aus dem Wirrwarr nicht herauskommen. Fragen können wir uns nur, ob das Ganze überhaupt so wichtig ist? Worum geht es denn in dieser psychoanalytischen Erzählung, Fallgeschichte, die ich als beispielhaft präsentiert habe? Es geht um die Wiedergabe, Nacherzählung eines Textes, der in der Kur oder im Fall von K. während einer kurzen Unterredung konstruiert worden ist.
Autor dieser Erzählung ist Freud, der Psychoanalytiker, und ist selbstredend Katharina, nur daß wir deren Erzählung nicht hören oder lesen. Katharinas Erzählung würde wohl auch anders aussehen, vielleicht ähnlich wie die des Rattenmannes oder die des Analysanten von S. Leclaire, die ihre Geschichten in einer einzigen Buchstabenkombination zusammenfassen: »Glejisamen« lautet sie im Falle des Rattenmannes und »Poor(d)je-li« im Fall von Phillippe und ergibt beide Male die Signifikanten und Eckpfeiler eines je besonderen Dramas.
In Fall von K. haben wir keine Erzählung vor uns und müssen uns also mit dem begnügen, was Freud uns von K. erzählt. Neuer Sündenfall also und zwar in punkto Authentizität. Denn der Psychoanalytiker Freud erzählt, wie wir gesehen haben ja nicht, was sich wirklich und wahrhaftig mit K. zugetragen hat, wie die Ereignisse auf der Raxalm authentisch waren. Der Psychoanalytiker legt uns hier einen Text vor, den er und nur er komponiert hat, den er stilisiert, fiktionalisiert, verdichtet und gedichtet hat. Und doch nicht ausschließlich er allein, K. hat ihm schließlich die Stichwörter dazu gegeben und ist damit aktiv an der Erzählung über sich selbst beteiligt, mehr jedenfalls, als in jeder Form einer authentischen Falldarstellung.
Anmerkungen

1. Das Zitat verdanke ich dem (Anfang 1998 noch) unveröffentlichten Manuskript »Die Erfindung der Tychanalyse« von Walter Seitter
2. S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1 .Vorlesung, in: Stud. Ausg. Bd 1, Ffm 1969, S.42
3. vgl. zum Erzählen des Psychoanalytikers, W. Seitter, unveröffentlichtes Manuskript, S.11
4. s. den Traum von Irmas Injektion, in: S. Freud, Die Traumdeutung, Stud. Ausg.Bd II, Ffm 1972,S.126ff.
5. S. Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in: Stud. Ausg. BdVII,Ffm1973,S.139
6. S. Freud, Studien zur Hysterie, in: Ges. Werke Bd l, Ffm 1952.S.227
7. Zitat ungenau
8. S. Freud, Studien zur Hysterie, a.a.O. S. 191
9. a.a.O. S.192
10. Sur l’hystérie, in: Hystérie et Obsession, les structures cliniques de la névrose et la direction de la cure, Recueil des Rapports de la quatrième Rencontre internationale, Paris, 1986
11. Gerhard Fichtner und Albrecht Hirschmüller, Wer war »Katharina«? in: Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse 1985 Bd 39 Heft 3,S.220-239